NESTLÉ ÜBERNAHME

„Ankerkraut ist ein knallhartes Finanzprodukt“

14.04.2022, 15:30 Uhr  | von Katja Michel, Capital Redaktion

Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé übernimmt die Mehrheit am Gewürz-Start-up Ankerkraut – und die Empörung im Netz ist groß. Branchenexperte Cyriacus Schultze von FOOD AND WINE CULTURE Consulting im Capital-Interview über die Macht von Geschichten, berechenbare Kunden und den Fall Bionade

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2013 gründeten Anne und Stefan Lemcke in Hamburg den Gewürzhersteller Ankerkraut. Das Food-Start-up wurde vor allem durch einen Aufritt des Gründerpaars in der TV-Show „Die Höhle der Löwen“ bekannt und wuchs in der Folge rasant. Der Umsatz lag zuletzt im zweistelligen Millionenbereich, das Unternehmen beschäftigt über 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 2020 stieg der französische Private-Equity-Fonds EMZ ein und übernahm rund 20 Prozent der Anteile.
Am Mittwoch wurde die Übernahme der Mehrheitsanteile durch Nestlé bekannt. Die Lemckes bleiben als Gesellschafter und Markenbotschafter an Bord. Kaufpreis und die Höhe der verkauften Anteile wurden nicht kommuniziert. Branchenkenner gehen von einem dreistelligen Millionenbetrag aus.

Die Ankerkraut-Gründer Stefan und Anne Lemcke
Foto © IMAGO / Future Image / Capital

CAPITAL: Herr Schultze, hat es Sie überrascht, dass der Lebensmittelkonzern Nestlé die Mehrheit am Hamburger Gewürzhändler Ankerkraut übernimmt?

CYRIACUS SCHULTZE: Überhaupt nicht.

Wirklich nicht? Viele andere Menschen waren offensichtlich schon überrascht.

Der Aufschrei in den sozialen Medien war groß. Zahlreiche Influencerinnen und Influencer verkündeten, nicht mehr mit dem Start-up zusammenarbeiten zu wollen. Das liegt daran, dass diese Menschen die Geschichte, die nach außen hin professionell erzählt wurde – vom Gründerpaar, das mit Herzblut das Start-up führt – verwechselt haben mit dem, worum es bei dem Unternehmen Ankerkraut vor allem geht: Um wirtschaftlichen Erfolg und schnelles Wachstum. Natürlich ist materieller Erfolg wichtig, aber hier teilen sich Unternehmer in zwei Kategorien. Die einen wollen schnell gründen, schnell wachsen und schnell für viel Geld verkaufen. Die anderen interessiert schnelles Wachstum und die Meinung von Influencern nicht, sondern nachhaltiges und sinnstiftendes Arbeiten. Sie sind nicht motiviert, weil man ihnen eine Karotte vor die Nase hält, sondern weil sie intrinsisch und von einem echten Qualitätsgedanken angetrieben sind. Fragen Sie mal Ingo Holland [vom Alten Gewürzamt, Anm.d.Red.] Natürlich gibt es bei den Unternehmern auch Mischformen.  Aber schauen Sie, ab dem Auftritt der Gründer in der „Höhle der Löwen“ und dem Einstieg des ersten Investors war klar, dass ihnen der finanzielle Aspekt ganz wichtig und ein Exit das Ziel ist. Ziel der Investoren ist immer Rendite, das darf man nicht vergessen. Entsprechend haben in der VC-Branche alle mit so einem Deal gerechnet.

Nicht so in der Fangemeinde. Ein Facebook-Nutzer schrieb: „Ihr habt eure Seele verkauft“ – und sprach damit wohl vielen Ankerkraut-Fans aus dem Herzen.

Die Marke wurde nach außen sehr emotional aufgeladen mit dem Gründerpaar als Galionsfiguren. Sie haben sich medial sehr geschickt inszeniert – und mit dieser Geschichte ein erstaunliches Wachstum hingelegt. Auf der anderen Seite ist Ankerkraut eben auch ein knallhartes Finanzprodukt – aber davon spricht natürlich niemand im Verbrauchermarkt. Die Influencer und Konsumenten, die jetzt den Shitstorm lostreten, sind vom schönen Bild des Gründerpaars und allem, wofür Ankerkraut stand, verführt worden. Sie sind jetzt enttäuscht, weil sie sich emotional mit der Marke identifiziert haben, und diese nun an einen in ihren Augen bösen Industriekonzern verkauft wird.

Wird sich das nicht rächen?
Kann der Einstieg von Nestlé die Marke Ankerkraut nachhaltig beschädigen?

Nestlé ist für ein Unternehmen in dieser Phase der perfekte strategische Partner. Ich gehe eher davon aus, dass Ankerkraut es verkraften wird, einige enttäuschte Kundinnen, Kunden und Influencer zu verlieren. Manche wenden sich nun ab, aber die breite Masse weiß ja oft gar nichts über die Besitzverhältnisse im Hintergrund. Der Empörungssturm war vorherzusehen und vermutlich eingepreist. Die Geschäftsleitung reagiert in ihren Statements sehr unaufgeregt, was zeigt, dass sie damit gerechnet hat. Nach außen hin wird sich erst einmal wenig ändern und Ankerkraut wird wohl – ebenso wie Nestlé – von dem Deal profitieren. Für mich ist das eine
Win-Win-Situation.

Inwiefern?

Wir bei FOOD AND WINE CULTURE beraten ja auch viele Unternehmen, die wachsen und internationalisieren wollen. Hier sehen wir quasi eine ideale Konstellation: Nestlé wird vermutlich das Know-How von Ankerkraut im Bereich Omnichannel in das eigene Vertriebsnetz integrieren. Für den Konzern ist Ankerkraut der Einstieg in den dynamischen Gewürzmarkt und die Chance, junge, hippere Zielgruppen zu erreichen. Bisher sind sie dort nur mit Maggi vertreten – samt der dazugehörigen, etwas verstaubten Klientel. Denn mal ganz ehrlich: Maggi-Würze ist in vielen Augen nun wirklich kein hippes Lifestyle-Food. Nestlé wollte vermutlich auch schon beim Ankerkraut-Wettbewerber Just Spices einsteigen, wurde aber vom Unternehmen Kraft Heinz ausgestochen. Und Ankerkraut hat mit Nestlé eine ganz andere Marktmacht im Rücken. Jetzt hat man bessere Lieferkonditionen auf dem Weltmarkt, kann günstiger produzieren und internationalisieren.

Dennoch gibt es Fälle aus der Lebensmittelbranche, bei denen der Verkauf an einen Konzern keine gute Idee war. Bekanntestes Beispiel ist Bionade. Nachdem die Radeberger-Gruppe 2009 bei der Familienbrauerei in der Rhön eingestiegen war, war der Kultstatus dahin und die Umsätze brachen ein.

Der Einstieg von Radeberger war tatsächlich eine Schlappe. Aber das ist lange her. Seitdem Bionade 2018 von der hessischen Hassia-Gruppe übernommen wurde, hat sich die Marke wieder sehr gut entwickelt und ist mehrere Jahre in Folge zweistellig gewachsen. Heute ist Bionade Marktführer unter den Bio-Limonaden und gilt in der Branche wieder als Klassenprimus.

Cyriacus Schultze, Geschäftsführer von FOOD AND WINE CULTURE

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